Rainer Forthaus in: Grundschulunterricht Heft 6 2003

 
In neun Kapiteln beschreiben Hartmut Spiegel und Christoph Selter, was Erwachsene über das mathematische Denken und Lernen von Kindern wissen sollten. Die Stammwürze der gelungenen Schrift liegt in den vielfältigen authentischen Eigenproduktionen, die in erfrischender Weise dokumentieren, wie Kinder Mathematik entdecken und erproben. Die Autoren greifen diese Dokumente auf, analysieren sie mit Sorgfalt und Sensibilität und werben – dabei niemals belehrend – für Geduld und Verständnis.
Schon im ersten Kapitel zum „Kapitänsaufgaben-Phänomen“ wird deutlich, wie originell und – von ihrem Standpunkt aus gedacht – sinnvoll Kinder beim Lösen mathematischer und mathematikverwandter Fragestellungen vorgehen. Schaut man aus kompetenzorientierter Perspektive auf die Fehler der Kinder, lassen sich dahinter interessante und tragfähige Fähigkeiten entdecken. Sieht die Leserin - so angestiftet - Mathematik zunehmend mit den Augen der Kinder, stellt sie bald fest: Kinder haben kluge Ideen, denken auf unterschiedlichen und eigenen Wegen und sind aktive Lerner, bei denen notwendigerweise mit „Fehlern gerechnet werden darf“.
Steht im ersten Teil des Buches das Kind in seiner Begegnung mit der Mathematik im Vordergrund, so beschäftigt sich der zweite Teil mehr mit einer Sicht von der Mathematik aus. Nachdrücklich zeigen die Autoren an grundschulgeeigneten Beispielen, dass Mathematik keine „bittere Medizin“ ist, sondern eine eigene schöpferische Tätigkeit. Was Kinder dazu in den ersten Schuljahren an Kenntnissen, Fertigkeiten, Fähigkeiten und Einstellungen erwerben sollen und müssen, wird unter Lehrplanaspekten ausgearbeitet.
Natürlich bleibt das mathematische Arbeiten auch in der Grundschule nicht ohne Probleme. Bei der Frage nach der Messung und Bewertung von mathematischen Leistungen plädieren die Autoren eindeutig für eine Leistungskultur, fordern dazu aber auch Rückmeldungen, „die von der Absicht getragen sind, die Lernentwicklung des Kindes positiv zu fördern, sachbezogen erfolgen und nicht die Person des Kindes bewerten.“
In den abschließenden zwei Kapiteln geht es um rechenschwache und rechenstarke Kinder. Es finden sich praxisbezogene Hinweise, welche Merkmale zu beobachten sind, wo mögliche Ursachen liegen und wie im Unterricht auf diese Kinder eingegangen werden kann. Im Nachwort schließt sich der Kreis, wenn noch einmal prägnant an einem Beispiel aufgezeigt wird, zu welchen Lösungsideen und Leistungen Kinder bei entsprechenden Freiräumen in der Lage sind.
Zweifelsohne ein gelungenes Buch, das nahtlos anknüpft an Selter/Spiegel: Wie Kinder rechnen. Leipzig 1997. Auch nichtlehrende Erwachsene werden ihre Freude daran haben, nicht zuletzt auch wegen der vielen kleinen Verlockungen, selbst ein wenig Mathematik zu betreiben.